Dr. med. Dirk Manski

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Ursachen, Diagnose und Therapie des akuten Nierenversagens

Zusammenfassende Literatur: (Klahr und Miller, 1998) (Lameire u.a., 2005) (Schrier und Wang, 2004) (Thadhani u.a., 1996).

Definition

Ein akutes Nierenversagen (ANV) ist die rasch (<48 h) einsetzende Verschlechterung der Nierenfunktion mit Akkumulation harnpflichtiger Stoffe im Blut. Das Nierenversagen wird nach AKIN eingeteilt, siehe Tabelle AKIN-Klassifikation des akuten Nierenversagens (Mehta u.a., 2007).

Synonyme: akute Niereninsuffizienz, acute kidney injury.

Einteilung des akuten Nierenversagens nach AKIN: Kriterien des Acute Kidney Injury Network (Mehta u.a., 2007).
(*) Beurteilung erst nach Ausschluss einer Obstruktion des Harntrakts und nach adäquater Flüssigkeitsgabe. Der Kreatininanstieg wird ausgehend von bekannten oder angenommen Vorwerten berechnet.
AKIN-Stadien Serum-Kreatinin Urinausscheidung (*)
1 1,5–1,9facher Kreatininanstieg oder Kreatininanstieg ≥0,3 mg/dl <0,5 ml/kgKG/h für 6–12 h
2 2–2,9facher Kreatininanstieg <0,5 ml/kgKG/h für mehr als 12 h
3 >3facher Kreatininanstieg oder
Kreatininkonzentration >4 mg/dl mit einem Anstieg über 0,5 mg/dl oder
Notwendigkeit der Dialyse
<0,3 ml/kgKG/h über mehr als 24 h oder Anurie über mehr als 12 h

Urinproduktion und akutes Nierenversagen:

Die Urinmenge ist kein guter Parameter für die Nierenfunktion, denn ein akutes Nierenversagen kann bei Polyurie, Normurie, Oligourie oder bei Anurie vorliegen.

Epidemiologie des ANV

Ambulant erworbenes ANV:

Inzidenz 2 von 1000 Einwohnern pro Jahr in Europa.

Nosokomiales ANV:

10–20% der Krankenhauspatienten erleiden ein akutes Nierenversagen, auf Intensivstationen 35–60% der der Patienten. Die Letalität des nosokomialen ANV liegt bei 30%. Auf Intensivstationen steigt die Sterblichkeit auf 60%, wenn eine Dialyse notwendig wird (Alscher u.a., 2019).

Ätiologie des akuten Nierenversagens

Prärenales Nierenversagen:

Verschlechterung der Nierenfunktion aufgrund verschlechterter Arbeitsbedingungen der Niere (55% aller AKI). Der häufigste Grund ist eine verminderte Nierendurchblutung. Primär liegt keine Nierenerkrankung oder Harnabflusstörung vor.

Intravasaler Volumenmangel:

Trauma, Verbrennung, Blutung, allergischer Schock, Sepsis, Pankreatitis, Exsikkose.

Vermindertes Herzzeitvolumen:

Herzinfarkt, andere Herzerkrankungen (kardiorenales Syndrom), Lungenembolie, Beatmung.

Verminderte Nierendurchblutung:

ACE-Hemmer, NSAR, Narkose, hepatorenales Syndrom. Hyperviskositätssyndrom bei multiplem Myelom oder Polyzythämie.

Renales Nierenversagen:

Verschlechterung der Nierenfunktion aufgrund renaler Erkrankungen (45% aller AKI).

Erkrankungen der großen Nierengefäße:

Nierenarterienstenose durch fibromuskuläre Dysplasie oder Arteriosklerose, Nierenarterienaneurysma, AV-Fistel, Aortenaneurysma mit Dissektion, Vaskulitiden, Nierenvenenthrombose, Nierenarterienembolie.

Mikrovaskuläre Erkrankungen:

rapid-progressive Glomerulonephritis, Goodpasture-Syndrom, postinfektiöse Glomerulonephritis, Panarteriitis nodosa, Wegener-Granulomatose, systemischer Lupus erythematosus, Purpura Schönlein-Henoch, essentielle Kryoglobulinämie.

Thrombotische Mikroangiopathien: hämolytisch-urämisches Syndrom, thrombotisch-thrombozytopenische Purpura, disseminierte intravasale Gerinnung (DIC).

Tubulointerstitielle Erkrankungen:

Allergische interstitielle Nephritis durch Medikamente (Beta-Laktame, NSAR, Thiazide, ACE-Hemmer, Allopurinol, Cimetidin). Infektionen wie schwere bakterielle Pyelonephritis oder virale Erkrankungen wie CMV, leukämische Infiltrationen, idiopathisch.

Akute Tubulusnekrosen:

Ischämie oder toxische Substanzen bewirkt eine Tubulusepithelschädigung. Die Schädigung der Nierenfunktion wird durch die Abstoßung abgestorbener Zellen verstärkt, welche die Tubuli verstopfen. Erst nach Regeneration der Tubuluszellen kann sich die Nierenfunktion wieder erholen.

Bei toxischen Substanzen entsteht die Tubulusschädigung entweder durch eine Ischämie (z. B. Vasokonstriktion durch Kontrastmittel) oder Zellschädigung (Cisplatin). Weitere toxische Substanzen sind Aminoglykoside, Antibiotika, Antimykotika, Chemotherapie, Chemikalien (Schwermetalle, Lösungsmittel, Insektizide), Drogen (Heroin, Amphetamine), D-Penicillamin.

Endogene Giftstoffe sind freies Hämoglobin (Hämolyse) oder Myoglobin (Rhabdomyolyse).

Postrenales Nierenversagen:

Verschlechterung der Nierenfunktion durch ungenügenden Abfluss des Urins (5% aller AKI).

Beidseitige Uretererkrankungen:

maligne Obstruktion, Morbus Ormond, Harnleitersteine, Blutung...[siehe Kapitel Harnstau ].

Harnverhalt:

BPH, Prostatakarzinom, neurogene Harnblasenstörungen, Harnröhrenstrikturen, Harnröhrenklappen, Phimose.

Pathophysiologie

Überschuss an Extrazellulärvolumen:

Die verminderte Salz- und Wasserausscheidung führt zu Gewichtszunahme, arterielle Hypertonie, Atemnot und Lungenödem.

Hyperkaliämie:

das Kalium steigt bei Anurie um 0,5 mmol/l und Tag. Eine besonders gravierende Hyperkaliämie entsteht bei zusätzlichem Zellzerfall (Tumorlyse, Hämolyse, Rhabdomyolyse).

Metabolische Azidose:

Die fehlende Ausscheidung von Protonen führt zu einer metabolischen Azidose. Die Azidose kann durch entsprechende Grunderkrankungen verstärkt werden: diabetische Ketoazidose, Laktatazidose, Lebererkrankungen und Gewebeischämie.

Klinik des akuten Nierenversagens

Die Urämie verursacht "nur" unspezifische Beschwerden. Die auslösenden Grunderkrankungen sind meist für die Symptome entscheidend.

Zeichen des prärenalen Nierenversagens:

Durst, Oligurie, Anurie, Hypotension, Tachykardie, verminderter Hautturgor. Weiterhin Zeichen von o.g. Krankheiten, welche das prärenale Nierenversagen auslösen.

Zeichen des renalen Nierenversagens:

meist ist eine Risikosituation für eine Nierenischämie oder toxische Nierenschädigung vorhanden.

Zeichen des postrenalen Nierenversagens:

Flankenschmerzen, UnterBauchschmerzen, neurologische Symptome sind verdächtig für ein postrenales Nierenversagen.

Symptome durch Komplikationen des akuten Nierenversagens:

Diagnostik

Anamnese:

Ziel der Anamnese ist die Identifizierung von Auslösern des akuten Nierenversagen, um eine gezielte Therapie zu ermöglichen: Schock? Volumenmangel? Toxine? Medikamente? Extrarenale Symptome von Systemerkrankungen?

Urinuntersuchung:

Urinsediment und Urinkultur, 24 h-Sammelurin und Bestimmung von Kreatinin, Elektrolyten, Proteinausscheidung, Osmolalität, pH.

Differentialdiagnose des Urinsediments bei ANV:

ein unauffälliges Sediment weist auf eine prärenale, postrenale oder vaskuläre Genese hin. Granulozytenzylinder bei akuter Tubulusnekrose, Erythrozytenzylinder bei Glomerulonephritis oder Vaskulitis, Leukozyten bei interstitieller Nephritis oder Pyelonephritis, Harnsäurekristalle bei Tumorzerfall.

Differentialdiagnose der Natriumausscheidung:

anhand der Natriumausscheidung im Urin kann zwischen prärenaler oder renaler Ursache zuverlässig unterschieden werden, da bei tubulärer Schädigung das Natrium nicht reabsorbiert wird. Eine Natriumkonzentration unter 10 mmol/l im Urin spricht für ein prärenales Nierenversagen.

Die fraktionierte Natriumausscheidung (FeNa) berechnet die Natriumausscheidung in Relation auf die Kreatininausscheidung. Dazu wird die Konzentration von Natrium im Urin und Plasma (UNa und PNa) und die Konzentration von Kreatinin im Urin und Plasma (UKrea und PKrea) benötigt. Eine FeNa kleiner 1 spricht für ein prärenales ANV und größer 1 für ein renales ANV:


FeNa = (UNa × PKrea)/(PNa × UKrea)

Labor:

Basisprogramm: großes Blutbild, Elektrolyte (Na, Cl, K, Ca), venöse Blutgasanalyse, Kreatinin, ggf. Cystatin C, Harnsäure, Harnstoff, LDH, CK, Lipase, Leberwerte, Glukose, Gesamteiweiß mit Elektrophorese, Albumin, CRP, Blutgerinnung.

Sonographie:

Abdominelle Sonographie mit Nierengröße, Nierendurchblutung mit RI, Ausschluss eines Harnstaus. Harnblasenfüllung. Orientierender abdomineller Ultraschall der anderen Organe.

CT-Abdomen nativ:

Zum Ausschluss eines postrenalen Nierenversagens, insbesondere bei Unklarheiten in der Sonographie.

Nierenbiopsie:

indiziert bei akutem Nierenversagenmit nephritischem Urinsediment: (Mikro-)Hämaturie, dysmorphe Erythrozyten, Erythrozytenzylinder und Proteinurie.



Therapie des akuten Nierenversagens

Allgemeinmaßnahmen:

Ausgleich von Volumendefiziten oder Hypotonie, Überprüfung der Medikation (Absetzen von NSAR, ACE-Hemmern, Aminoglykosiden), kaliumarme hochkalorische eiweißarme Ernährung, Flüssigkeitsbilanz nach Ausfuhr und Körpergewicht.

Harnableitung:

Einlage eines Dauerkatheters zur Kontrolle der Ausscheidung oder auch therapeutisch bei postrenalem Nierenversagen. Bei Harnstau ohne Harnverhalt ist je nach Laborergebnis (Kalium, Harnstoff, Azidose) eine elektive oder dringliche Harnableitung mit DJ-Harnleiterschienen oder perkutaner Nierenfistel indiziert.

Therapie der Hyperkaliämie:

Gabe von Glukoseinfusionen mit Insulin oder Resonium. Bei Azidose ist die Gabe von Natriumbikarbonat zu erwägen, dies bessert auch die Hyperkaliämie. Eine therapierefraktäre Hyperkaliämie ist eine Indikation zur Dialyse.

Diuretika:

werden häufig klinisch als Therapieversuch angewandt, konnten aber in kontrollierten Studien nicht die Mortalität oder die Notwendigkeit einer Dialyse senken. Diuretika sind eine Therapieoption bei Volumenüberladung, falls es durch die Therapie zur einer Diuresesteigerung kommt, z.B. mit Furosemid oder Mannitol.

Dialyse:

Indikationen zur Dialyse sind: Hyperkaliämie >6,5 mmol/l, schwere metabolische Azidose, Hyperhydratation mit Lungenödem, Harnstoff >200 mg/dl, Symptome der Urämie (Perikarditis, neurologische Symptome).

Hämodialyse oder Hämofiltration:

siehe Kapitel Dialyseverfahren.

Peritonealdialyse:

erfordert die Anlage eines Peritonealkatheters und ist für die Akuttherapie des ANV bei Säuglingen und Kleinkindern indiziert.

Prognose

Siehe auch Abschnitt Epidemiologie. Die Nierenfunktion erholt sich bei den überlebenden Patienten innerhalb von 2–3 Monaten. 20–60% der Patienten mit Notwendigkeit der Dialyse werden wieder unabhängig von Nierenersatzverfahren. Jedoch werden 8–21% der Patienten ohne Notwendigkeit der Dialyse innerhalb von 2–3 Jahren terminal niereninsuffizient.






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Literatur akutes Nierenversagen

Alscher M., D.; Erley, C. & Kuhlmann M., K. Nosokomiales akutes Nierenversagen
Dtsch Arztebl, 2019, 116, 149-158

Klahr und Miller 1998 KLAHR, S. ; MILLER, S. B.: Acute oliguria.
In: N Engl J Med
338 (1998), Nr. 10, S. 671–5

Lameire u.a. 2005 LAMEIRE, N. ; VAN BIESEN, W. ; VANHOLDER, R.: Acute renal failure.
In: Lancet
365 (2005), Nr. 9457, S. 417–30

Mehta, R. L.; Kellum, J. A.; Shah, S. V.; Molitoris, B. A.; Ronco, C.; Warnock, D. G.; Levin, A. & AKIN Acute Kidney Injury Network: report of an initiative to improve outcomes in acute kidney injury.
Crit Care, 2007, 11, R31.

Schrier und Wang 2004 SCHRIER, R. W. ; WANG, W.: Acute renal failure and sepsis.
In: N Engl J Med
351 (2004), Nr. 2, S. 159–69

Thadhani u.a. 1996 THADHANI, R. ; PASCUAL, M. ; BONVENTRE, J. V.: Acute renal failure.
In: N Engl J Med
334 (1996), Nr. 22, S. 1448–60




 



  English Version: Acute kidney injury: Causes